DER RECHENSCHIEBER oder: Die Macht der Zehnerpotenz
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DER RECHENSCHIEBER oder: Die Macht der Zehnerpotenz



Neulich bei einem Anfall von Ordnungswut passierte es.
In den Tiefen einer Lade fand ich
ein längst vergessenes Instrument.
Vor langen Zeiten habe ich es verwendet
in der Schule, im Studium, in der Wissenschaft.


Ein langes Plastikstück mit Zahlen und Skalen und Strichen,
mit einem beweglichen Mittelteil
und einem Schieber,
der Dich einlädt, ihn zu bewegen.


Wozu das Ding wohl sein soll?
Zahlen, Ziffern – ja! aber
da ist nichts zum Drücken,
keine Anzeige blinzelt dich an.
Nirgends ein Error oder ein Overflow,
nirgends 10 stellige Ziffern.


Und doch, liebe Leute, das Ding ist zum Rechnen!
Man kann damit multiplizieren und dividieren,
Man reiht Strecken, Abschnitte aneinander - rein mechanisch –
sieht eine Ziffer – hat eine Zahl.


Eine Zahl - ja – aber noch kein Ergebnis.
Für ein Ergebnis muss man weiter denken.
Eine 5 kann 50, 500, 5000 - aber auch 0,5 oder 0,05 bedeuten.
Für die Position des Kommas muss man überlegen, muss man denken.


Dieses Denken, dieses Überlegen in Größenordnungen
wird durch Rechner verschüttet;
damit fehlt auch das Bewusstsein
für die Bedeutung großer, aber auch kleiner Ziffern.
Und das hat merkbare, zum Teil erschreckende Auswirkungen.


Kürzlich geschehen: ein Bildungsexperte beim „Kaiser“ ist nicht im Stande,
eine Milliarden – Zahl richtig an eine Tafel zu schreiben.
Er stoppte mit dem Schreiben der Ziffer beim Millionen – Wert
und schrieb erst dann die drei fehlenden Nullen dazu,
als der „Kaiser“ die Augenbraue leicht hochzog.


Ich hab den „Kaiser“ noch nie so zurückhaltend erlebt -
in dieser Sendung wird man üblicherweise
bei wesentlich kleineren Schwächen verarscht.


Jetzt stelle man sich ruhig unsere für unser Finanzgebaren verantwortlichen Leute vor.
Die Wahrscheinlichkeit ist gar nicht so gering,
dass dort Leute mit demselben Nicht – Gefühl für Größenordnungen sitzen.

1 Million zusätzlich ausgeben für Bildung und Schule – da wird lange herumgestritten, ob das möglich ist.

1 Milliarde für die nächste Bankenrettung – naja – ach - das bewilligen wir gleich - ist ja auch eine „1“.

1 Billion für Rüstungsausgaben? Macht nichts, ist auch eine „1“ und – es wird schon was abfallen.

1000 – Million – Milliarde – Billion : das sind Schritte um jeweils den Faktor 1000 –
also drei Nullen. Leute, nimmt euch dieses Beispiel mit:

1000 Sekunden sind 17 Minuten
1 Million Sekunden sind 11 ½ Tage
1 Milliarde Sekunden 31,7 Jahre.

Bei einem Verdienst von 1500 Euro im Monat muss man für
1 Million Euro 55 Jahre arbeiten
(ein Nationalbankpensionist braucht dazu nur 3 Jahre).

Für eine Milliarde müsste man 55.000 Jahre leben und arbeiten.


Mit diesem Ding aus der Schublade haben wir das damals gelernt:
Rechnen und überlegen!
Die Bestimmung der vielen Stellen hinter dem Komma heute mit einem Rechner ist Lehrlingsarbeit - notwendig, aber nicht den Intellekt fordernd.
Die Bestimmung des Zahlenwertes ist da schon Gesellenarbeit
und das Meisterstück ist die Bestimmung der Position des Kommas,
der Größenordnung der Zahl.


Was passieren kann, wenn man sich in der Größenordnung vergeigt,
zeigt folgende Geschichte – wenn sie nicht wahr ist, ist sie gut erfunden:


Ein Prüfling in Technischer Mechanik musste den Durchmesser einer Welle berechnen, die Tonnen an Kräften übertragen sollte.
Er bekam als Ergebnis einen Durchmesser von 2 mm.
Auf die Frage des Professors, ob er das Ergebnis für richtig halte, antwortete der Student: „Herr Professor, sie glauben gar nicht, was Stahl alles aushält“.


Wir müssen wohl auch die Auswirkungen des Unverständnisses für Größenordnungen aushalten.


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